Katharina Duwe

»Move« - Stadtlandschaften

Dr. Karen Michels, Hamburg, 2012 / 2013

Text zur Ausstellung »move» in der Ute Claussen Galerie, Hamburg

Es sind Stadtlandschaften, und sie entwickeln sofort einen Sog. Fast automatisch taucht man ein, wird Teil der Szenerie, wird einer von jenen, die dort in der nächtlichen Großstadt herumstehen, kommen oder gehen. Und man fühlt sich irgendwie wohl dabei.


Warum ist das so, was passiert da zwischen Bild und Betrachter? Zuerst lösen die Gemälde Assoziationen aus, zum Motiv zum Beispiel: Die Stadtdarstellung ist ja eigentlich ein vertrautes Motiv unserer Kultur. Das Spektrum reicht von der Fiktion des „Himmlischen Jerusalem“ im Mittelalter bis zur topographischen Exaktheit einer barocken Merian-Silhouette. Aus der Binnenperspektive, aus dem Blickwinkel ihrer Bewohner aber gibt es Städtebilder erst aus dem „Goldenen Zeitalter“ der niederländischen Malerei, etwa bei Pieter de Hooch oder Vermeer. Zur vollen Blüte gelangt diese Perspektive im 19. Jahrhundert, als die Impressionisten die Schönheit der urbanen Szenerie entdecken, vor allem nachts und gern bei Regen. Hier setzt Katharina Duwe an. Sie malt die Stadt als nächtliche Erscheinung aus farbigem Licht, und sie stellt sie aus der Perspektive der Menschen im Stadtinnern dar.

»Gegenlicht I«   2011   150 × 230 cm

Zur Stadtlandschaft gehört der Raum. Er spielt bei Duwe zwar eine Rolle, aber nicht so, wie es uns die akademischen Regeln der Zentralperspektive beigebracht haben. Wo früher eine mathematische Konstruktion unseren Blick lenkte und bis zum Fluchtpunkt zwang, herrscht hier Freiheit. Begrenzungen lösen sich auf, eine eindeutige Lesbarkeit ist zugunsten subjektiver Erfahrungen aufgegeben – auch dies eine Errungenschaft der Impressionisten. Der Raum nimmt genau an jenen Stellen Gestalt an (probieren Sie es aus!), an die man als Betrachter seinen Blick lenkt. Aus dem Einheitsraum ist ein subjektiver Erlebnisraum voller Möglichkeiten der Tiefenillusion geworden – ein beinahe philosophisches Konzept, das den Nerv unserer Zeit trifft.

»Heimweg des Fußballfans«   2012   180 × 230 cm   (•)

Die Raumwahrnehmung benötigt Bewegung. Nicht umsonst heißt die Ausstellung „move“: ein doppeldeutiger Titel, der nicht nur eine Beschreibung, sondern auch eine Aufforderung – „beweg Dich, Betrachter“ – enthält. Die Geschwindigkeit der Großstadt bringen vor allem die Autos ins Bild, die in Duwes Arbeiten ein schnittiges, funkelndes Eigenleben führen und sich im Moment ihres rasanten Passierens in Cluster aus vertikalen Farbzonen auflösen. Die kunstvolle Unschärfe der Konturen erinnert an die an Wischeffekte Gerhard Richters. Sie verstärkt den flüchtigen Charakter der Erscheinungen und verschmilzt sie zu einer Seherfahrung, in der Raum und Zeit ineinanderfallen.

»Fanmeile 1«   2012   110 × 170 cm

Als kompositorisches Gleichgewicht fungieren die Figuren. Die Menschen in Katharina Duwes Großstadt-Erkundungen schlendern oder stehen – und sie erinnern damit an den Flaneur des 19. Jahrhunderts, dessen Eindrücke Katharina Duwe hier ins 21. Jahrhundert transportiert. Die Figuren sind einerseits Teil des Organismus Stadt – und sie bleiben andererseits Individuen. Zwar kann man ihre Gesichter nicht erkennen, und ihre Körper sind kaum mehr als Schatten – aber ihre ausgeprägten Konturen machen sofort neugierig auf das, was in und zwischen ihnen passiert. Oft im Vordergrund platziert und von hinten wiedergegeben, lebt in ihnen ein künstlerisches Mittel weiter, das wir spätestens von Caspar David Friedrich kennen – die klassische Rücken- oder Repoussoirfigur, mit der die akademische Malerei früherer Jahrhunderte die Illusion von Raumtiefe erzeugte. Die Rückenfigur lädt, da sie gesichtslos bleibt, den Betrachter ein, sich mit ihr zu identifizieren und sich an ihrer Stelle in die Szene zu begeben. Es funktioniert auch hier.

»Freitagnacht«   2012   180 × 180 cm

Und die Technik? Sie lässt sich kaum beschreiben - dafür muss man die Originale sehen. Öl, Eitempera und Aquarell werden so virtuos und mit soviel handwerklichem Können gemischt, übereinandergelegt, abgekratzt, verwischt, dass eine sehr individuelle, autonome Bildfläche, ein Farbrelief mit Höhen und unendlichen Tiefen, mit Überlagerungen und Spiegeleffekten entsteht. Es erinnert spontan an bestimmte Partien in den späteren Gemälden Rembrandts, an seine „rauhe Manier“. Staunen erregt diese Oberfläche dort, wo die nasse Aquarellfarbe herunterläuft und sich zu wäßrig schimmernden, plötzlich ganz real wirkenden Pfützen ausbreitet. Auch der Zufall darf hier also „mitspielen“. Aber gibt es den überhaupt? Ist nicht unser kontrolliertes Sein, wie die Surrealisten meinten, nur die Spitze jenes unerforschten Eisbergs, der sich Unterbewußtsein nennt? Solche und andere Hinweise auf das, was uns als Gesellschaft im frühen 21. Jahrhundert interessiert, werden erst künftige Interpreten in Duwes Arbeiten entdecken; dazu braucht es die Distanz der Zeit.

»Winterabend«   2012   165 × 230 cm

Heute wirkt vor allem faszinierend, wie hier aus Vertikalen und Horizontalen, aus Farbe und Schwarz/Weiss, aus Bewegung und Statik, aus Fläche und Raumillusion, aus Auflösung und greifbarem Volumen, aus Zufall und Kontrolle, aus Beschreibung und Abstraktion, aus angedeuteter Erzählung und Verallgemeinerung, aus Anonymität und Vertrautheit, aus Kühle und Romantik ein schwebendes Gleichgewicht entwickelt wird. Es entsteht ein harmonischer Einklang der Teile mit dem Ganzen, eine Essenz dessen, was Stadt bedeutet. Lässt man sich darauf ein, wird die eigene Wahrnehmung verändert und jener magische Prozess in Gang gesetzt, den Paul Klee so unübertrefflich beschrieben hat: „Kunst gibt nicht das Sichtbare wieder, sondern macht sichtbar.“


Dr. Karen Michels
Agentur für KunstVerstand